Korridor der Moderne (2009)

Weiße Stadt am Meer: Die polnische Hafenstadt Gdynia entdeckt ihre architektonischen Qualitäten

Wer aus Berlin kommt, hat ein Gespür für die politische, soziale und kulturelle Topografie von Teilungen. Wer die Verschränkung der Moderne und ihrer Gegenströmungen im 20. Jahrhundert in Berlin betrachtet, muss umso faszinierter sein, wenn er das vormoderne und nach totalem Kriegsverlust rekonstruierte Stadtzentrum von Danzig/Gdansk und die Kontinuität des modernen Gdynia/Gdingen unmittelbar nebeneinander existieren sieht. Voller Selbstbewusstsein präsentiert sich Gdynia heute als Manifestation der polnischen Zwischenkriegsmoderne. Bereits zum zweiten Mal veranstaltete die Stadt ein Symposium zum Thema «Modernismus in Europa – Modernismus in Gdynia». Es gibt in Europa viele Bauten der Moderne, Siedlungen, Stadtteile oder Städte neben bereits bestehenden, nirgends aber eine so kompakte Stadt der Moderne als Neugründung. Die weiße Stadt am Meer entstand als Ergebnis des Ersten Weltkrieges. 1772 mit der ersten polnischen Teilung zu Preußen gekommen, war Gdingen ein Fischerdorf. Traditionell lebten in dem Gebiet Deutsche, Polen, Kaschuben und auch eine recht starke jüdische Minderheit. Der Versailler Vertrag bestimmte die Abtretung westpreußischer Gebiete an das 1918 unabhängig gewordene Polen und die Schaffung eines Zugangs Polens zur Ostsee, den 1920 errichteten sogenannten polnischen Korridor, dessen Gebiete die Woiwodschaft Pommern bildeten.

Nachdem sich 1920, während des polnisch-sowjetischen Krieges, kommunistische Hafenarbeiter weigerten, Waffen aus England, die für die polnische Armee bestimmt waren, zu entladen, galt der Danziger Hafen für Polen als nicht mehr sicher. So beschloss das Land den Bau eines eigenen Hafens an der Ostsee. Gdynia erhielt 1926 Stadtrecht und die Bevölkerung wuchs im Zuge des Ausbaus der «polnischen Hauptstadt des Meeres» von wenigen Tausenden auf 120 000 Einwohner (1938). Die polnische Marine, eine beträchtliche Fischfangflotte und zuletzt sieben stolze Übersee-Passagierliner waren im Hafen von Gdynia stationiert. Eine neu angelegte Eisenbahnstrecke verband Gdynia mit dem Industrierevier im ebenfalls abgetrennten polnischen Teil Oberschlesiens um Kattowitz (Katowice), sie ermöglichte den Export oberschlesischer Kohle. Für Gdynia musste die städtische Struktur völlig neu entwickelt werden. Die Ausarbeitung eines Generalplans scheiterte am absoluten Vorrang der Anlage und des Ausbaus des Hafens. Auch die Planung für ein repräsentatives, zum Meer hin ausgerichtetes Zentrum blieb unvollendet. Die ersten Wohnhäuser ab 1920 waren Ferienhäuser begüterter Warschauer auf dem Steinberg, die von Warschauer Architekten als Gartenstadt-Siedlung angelegt, einen polnischen Heimatstil präsentieren, der sich auch noch im 1923 bis 1926 von Romuald Miller erbauten Bahnhof zeigt. Der städtische Wohnungsbau setzte erst ab 1926 ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Stadt bereits mit «wilden» Barackensiedlungen zu kämpfen. Verschiedene Baugenossenschaften und eine in ganz Polen tätige Versicherungsgesellschaft traten nun auf den Plan, deren Entwürfe unter anderen von renommierten Architekten der Warschauer Avantgarde stammten. Da es darum ging, der Stadt ein Zentrum zu geben, waren nicht die Wohnsiedlungen das charakteristische Element, sondern innerstädtische Wohn- und Geschäftshäuser privater Bauherren auf einem robusten linear gerasterten Stadtgrundriss. «Durch die enge Verbindung mit der Warschauer Architekturszene setzte sich in Gdingen das Neue Bauen rasch durch und wurde zum Kennzeichen der modernen Meeresmetropole – das ‹weiße› Gdingen hob sich als Symbol des modernen polnischen Staats von der ‹preußischen› Backsteinarchitektur des Umlands ab.» Im benachbarten Danzig wurde dagegen «explizit am Bild einer historischen ‹deutschen› Stadt festgehalten», wie Beate Störtkuhl in dem Buch «Wohnen in der Großstadt 1990–1939» schreibt.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 13.10.2009)